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Wundern


Ich wundere mich - einmal mehr.


Die Brandkatastrophe, von der die berühmteste Kirche Frankreichs betroffen ist, wird zu einem alles bestimmenden Thema in den Medien. Eine der bekanntesten Zeitungen Deutschlands begründet in einem Kommentar das Ausmaß der Bestürzung damit, dass nicht einfach ein Gebäude, eine Kirche, sondern ein Symbol gebrannt hat - ein Symbol für die Grundlagen unserer Gesellschaft: das Christentum. Das kann man so sehen und wenn dies so ist, dann hat der verheerende Brand zumindest vorübergehend positive Nebenwirkungen: Menschen treffen sich aus Betroffenheit zum Gebet und denken über ihre Wurzeln nach.


Was mich wundert und bestürzt, ist die Tatsache, wie schnell wir bereit sind, einen Status Quo wiederherzustellen, weil er uns - meiner Einsicht nach - vor allem vertraut und angenehm ist. In geradezu atemberaubender Zeit wurden Millionen von Euro gesammelt, um Notre-Dame wieder aufzubauen. So schnell wie möglich soll alles wieder beim Alten sein. Jedoch: Wird das neu wiederhergestellte Alte mehr sein, als ein architektonisches Schmuckstück? Wird das "Symbol" zum Leben erweckt oder werden wir wieder in den Schlaf des Gewohnten sinken?

Über das geistliche Erbe und die Bedeutung, die hinter Notre-Dame stehen, haben wir uns bisher wenig Gedanken gemacht, sondern staunten über ein grandioses Bauwerk und gruselten uns bei der Erinnerung an Anthony Quinn in seiner Rolle als Quasimodo, der in der Verfilmung des berühmten Romans von Victor Hugo den Glöckner von Notre-Dame gab. Ich vermute, dass dies weiterhin so sein wird, wenn der erste Schrecken erst einmal verklungen ist.


Was mich noch mehr wundert, ist die Tatsache, wie tatkräftig und spendierfreudig wir sind, wenn uns etwas genommen wird, das wir als schön und zu uns gehörend betrachten, und wie ignorant wir der realen Not gegenüber sind, die sich tagtäglich in der Welt abspielt. Ich bin weder ein Kunstverächter, noch ist es mir egal, wenn Kirchen brennen. Doch brannte in Paris gerade ein Gebäude, das zwar ein reiches, auch geistliches Erbe trägt, zugleich aber zu einer Art Museum und Toristenattraktion geworden ist. Die Millionen an Spenden, die zusammengekommen sind, werden voraussichtlich ein Objekt des Genusses von Schönheit erhalten, aber echte Not wird durch das viele Geld keine gelindert.

Ich frage mich, wo die Spendenbereitschaft bleibt, wenn es um lebendige Kirchen, beispielsweise in Indien, Pakistan, Ägypten, Chile, Tansania und Nigeria geht, die aus Hass niedergebrannt werden, weil dort lebendiger Glaube verkündigt und gelebt wird. Ist uns Christen der Erhalt von Kunst tatsächlich wichtiger, als die Unterstützung derer, für die der Glaube mehr ist, als ein gewohntes Gedankenkonstrukt und deren Glaube im Alltag nicht die Rolle eines Rituals spielt, sondern ihn überhaupt erträglich werden lässt? Warum sind wir nicht berührt davon, wenn Christen außerhalb Europas leiden? Stellen Sie sich vor, wie viele Kirchen in den oben genannten Ländern mit den Abermillionen an Euro wieder errichtet werden könnten, die gerade für Notre-Dame gesammelt werden. Ganz deutlich wird: Das Geld ist da, das Herz nicht. Ich bin sicher: Es ist sogar das Geld für Notre-Dame und die architektonisch überhaupt nicht interessanten, aber von pulsierendem Leben erfüllten Kirchen in der Ländern außerhalb Europas da.


Was mich nicht nur wundert, sondern traurig macht, ist die Beobachtung, die man machen kann, wenn man sich anschaut, wie manche Christen in den sozialen Medien auf das Feuer in Paris reagieren. Sie spekulieren über eine mögliche geistliche Bedeutung. Im Internet ist nachzulesen, wie von mancher Seite vermutet wird, dass der Brand in Paris ein Zeichen Gottes sei. Das Feuer soll ein Aufruf dazu sein, sich daran zu erinnern, wofür solche fantastischen Gebäude eigentlich gebaut wurden und zugleich ein Aufruf zum Gebet und zur Umkehr zu Gott. Wirklich?

Glauben wir denn tatsächlich an einen zündelnden Gott, der durch den Brand in Paris ein Zeichen setzen möchte, das realistisch gesehen von 99% der Menschen überhaupt nicht verstanden wird? Sind wir so abgestumpft, dass uns ein Blick in die aktuellen Nachrichten nicht bedeutend genug, nicht Zeichen und Aufruf genug sind?


Ich kann nur hoffen, dass die Betroffenheit über den Brand von Notre-Dame in eine Diskussion darüber mündet, was uns Europäern eigentlich wichtig und was für uns erhaltens- und unterstützenswert ist. Vielleicht gelingt uns sogar der eingangs erwähnte Brückenschlag von einer zerstörten Kirch hin zu dem, wofür sie eigentlich steht - aber das würde mich wundern.

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