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AutorenbildRainer Harter

Ein Brief an meine Familie


Meine liebe Familie.


Ich möchte dir diesen Brief schreiben, weil ich in meinem Inneren eine Last spüre.

Es ist eine Last, die dich betrifft und die ich heute als einer, der zu dir gehört, mit dir teilen möchte. In diesen Tagen denke ich viel an dich, deshalb spüre ich diese Last, die mir auf meine Seele drückt, umso mehr.


Ich möchte offen sein:

Ich mache mir Sorgen um dich.

Im Augenblick schaue ich dich an, bete für dich und mache mir viele Gedanken darüber, wie ich dich unterstützen kann. Wenn mein Blick auf dich fällt, werden ganz unterschiedliche Gefühle in mir geweckt: So freue ich mich beispielsweise über die Kreativität, mit der du dich für eine Weiterführung der Gottesdienste über das Internet einsetzt. Ebenso macht es mir Freude, dass einige Familienmitglieder sich aufmachen und den Menschen in ihrer Nachbarschaft ganz praktisch dienen: sie kaufen für sie ein, sie rufen sie an - sie helfen.



Neben der punktuellen Freude verspüre ich aber auch Schmerz.

Ich meine nämlich zu beobachten, dass du mit allen Mitteln versuchst, den gewohnten Status Quo unserer Familienaktivitäten aufrecht zu erhalten. Aber etwas tief in mir sagt mir, dass das nicht die vordringlichste Reaktion ist, die du auf die aktuelle Viruskrise zeigen solltest.

Ich mache mir Sorgen, weil ich wenig davon sehe, höre oder lese, dass diese Zwangspause dich einmal zur Ruhe bringt und dir im Hören auf Gott zu einer Chance werden darf.


Obwohl wir in diesen Tagen mehr Zeit haben, sehe ich keinen Abbruch der Beschäftigung in unserer Mitte. Wir versuchen uns online zu verbinden und so geistlich über Wasser zu halten, wir schauen deutlich mehr Fernsehen oder bedienen uns am reichen Angebot der Streaming-Anbieter und beschäftigen uns mit den tagesaktuellen Nachrichten.


Und wir streiten.


Je länger die staatlich verordneten Restriktionen dauern, desto mehr streiten wir. Einige von euch begegnen mir, die den aktuellen Zustand wie eine Zeit der Verfolgung betrachten und willens sind, sich eine Einschränkung ihrer christlichen Gewohnheiten seitens des Staates nicht gefallen lassen zu wollen. Sie argumentieren beispielsweise damit, dass Gott schließlich über dem Staat stehen würde und man ihm mehr gehorchen müsse. Und sie zeigen mit dem Finger auf diejenigen aus unserer Familie, die eine andere, vielleicht sogar sehr gegensätzliche Meinung dazu haben. Manche drücken ihren Unmut aus und bezeichnen ihre Brüder und Schwestern als Schwächlinge, welche die Zeichen der Zeit nicht erkennen würden.

Umgekehrt belächeln manche derer, die die Einschränkungen nachvollziehen können und sich daran halten möchten, ihre leidenschaftlichen Brüder am Rande des gegenüberliegenden Spektrums unserer Familie mit unschöner Hochmütigkeit. Sie bezeichnen sie als unbelehrbare Rebellen, als Verschwörungstheoretiker oder sie verdrehen die Augen, wenn sie von ihnen sprechen.


Mich schmerzt das.


Es gibt bereits so viele Streitthemen unter uns, und nun ist noch ein weiteres dazugekommen.

Mich schmerzt das nicht nur, weil wir eine Familie sind, sondern weil unser Herr einmal gesagt hat, das man an der Liebe, die wir füreinander haben erkennen würde, dass wir zu ihm gehören. In der augenblicklichen Situation kann ich nicht erkennen, dass die Kirche in unserem Land „erkannt“ wird. Das wundert mich nicht, denn wir sind viel zu sehr mit unseren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Ich leide darunter, dass meine Familie in dieser Zeit kaum sichtbar ist.



Darf ich einen Vorschlag machen?

Ich maße mir nicht an, genau zu wissen was wir jetzt alles tun oder wie genau wir uns geistlich oder sozial positionieren sollten. Dennoch möchte ich euch Anteil haben lassen an meinen Gedanken. Sie entstammen dem Herzen eines Mannes, der seine ganze Familie liebt, auch wenn das nicht immer ganz einfach ist.


Zuerst möchte ich unser „Beschäftigt-Sein“ ansprechen. Wie ich oben schon geschrieben habe, versuchen wir augenblicklich, möglichst viele Veranstaltungen online zu streamen, um so die Gemeinde zu versorgen und zusammen zu halten. Das kann ich gut verstehen. Aber könnte es nicht sein, dass wir damit nur weiter eine Art „Konsumchristentum“ unterstützen, in das wir in den letzten Jahrzehnten aus meiner Sicht sowieso viel zu stark gefallen sind? Wenn wir ehrlich sind, findet für die allermeisten von uns der Großteil unserer geistlichen Beschäftigung in Veranstaltungen statt. Dort aber gibt es einige wenige Akteure und dafür viele passiv teilnehmende Zuhörer und Zuschauer. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir mehr als bisher unsere persönliche Gottesbeziehung stärken.


Weil ich glaube, dass uns gemäß Römer 8,28 alle Dinge zum Besten dienen, wünsche ich mir für uns, dass wir uns in Gottes Gegenwart Gedanken darüber machen, was denn das Beste im Heute für uns sein könnte und wie wir es empfangen können. Um in diese Empfangshaltung zu kommen, braucht es aus meiner Sicht allerdings eine alte, fast schon unpopuläre Beschäftigung, nämlich das persönliche Gebet.


Vor kurzem unterhielt ich mich mit einem wertgeschätzten Bruder, der mir davon erzählte, dass er am betreffenden Tag zwei bis drei Stunden damit verbracht habe, die unterschiedlichsten Nachrichtenquellen zu besuchen. Da ich selbst jeden Tag mehrfach möglichst seriöse Quellen besuche, kann ich das gut verstehen. Zugleich stieg in mir die Frage auf, ob er - und wir alle - neben dem Nachrichtenkonsum wohl auch die Zeiten der persönlichen Gemeinschaft mit Gott erhöht hat. Bisher hat mir leider keines meiner Geschwister, egal, aus welchem Spektrum kommend, von der Freude und Notwendigkeit erzählt, endlich mehr Zeit für das Gebet zu haben.


An dieser Stelle sehe ich einen entscheidenden Punkt hinsichtlich der Chancen der aktuellen Krise: Die meisten von uns haben nämlich jetzt mehr Zeit, um Gott zu suchen.


Diese Zeit sehe ich als einen Trainingskurs an. Das Training soll uns dabei helfen - wie Paulus im Brief an die Epheser schreibt - dass wir tiefer in der Liebe Christi gewurzelt und gegründet werden. Unsere Beziehung zu unserem Gott soll sich vertiefen. Stell dir einmal vor, es kommen noch größere Katastrophen auf uns zu - und als Bibelleser weisst du, dass sie kommen werden.

Was ist beispielsweise, wenn dann das Internet nicht mehr funktionieren würde? Bereits jetzt drosseln Streaminganbieter ihre Datenraten wegen der Gefahr einer Überlastung. Wovon ernähren wir uns geistlich, wenn keine Gottesdienste mehr gestreamt werden können und unser Pastor oder Leiter nicht mehr vom Bildschirm zu uns sprechen kann? Ich habe Sorge, dass dann viele in ein Loch fallen könnten, weil ihnen der feste Boden einer persönlichen Gottesbeziehung fehlt.


Ich glaube deshalb, dass wir im Augenblick vor allem eines tun sollten: Gott suchen. Persönlich. Ehrlich. Konsequent.


Oben habe ich schon geschrieben, dass ich auch darunter leide, relativ wenig an praktischer Hingabe und an Vermittlung von Hoffnung seitens unserer Familie an die Welt um uns herum zu sehen. Mit Sicherheit übersehe ich vieles, aber wir können sicher nicht davon sprechen, dass die Kirche in dieser Zeit einer der Hauptakteure wäre, welcher der Gesellschaft Hoffnung und praktische Unterstützung geben würde. Also frage ich mich, was wir tun können.


Nun sind wir ja nicht die erste Generation von Christen, die eine Pandemie erleben. Ich denke beispielsweise an die sogenannte "Antoninische Pest", die in den Jahren 165-180 nach Christus Europa heimsuchte und zu einem vierundzwanzig Jahre andauernden Massensterben führte, dem zwischen sieben und zehn Millionen Menschen zum Opfer fielen. Siebzig Jahre später brach die "Cyprianische Pest" im römischen Reich aus, die allein in der Stadt Rom täglich bis zu 5.000 das Leben kostete. Erstaunlicherweise wurde die damals noch junge christliche Kirche durch diese Krisen jedoch nicht geschwächt, sondern enorm gestärkt. Im Jahr 165 n. Chr. waren nur 0,08 % der Bevölkerung im römischen Reich Christen, insgesamt also etwa 45’000 Menschen. 251 n. Chr., gab es im Römischen Reich bereits 1,9 % Christen, das waren 1’171’000 Menschen. Man hat herausgefunden, dass diese Entwicklung daran lag, dass erstens unsere Familie damals Sorge füreinander trug und zweitens ihrer heidnisch geprägten Umwelt etwas vermitteln konnte, was diese nicht hatte: Einen Glauben, in dem Schmerz, Leid und sogar der Tod einen Platz hatten, weil es eine Hoffnung auf Auferstehung, echten Trost und die Erfahrung einer großen Liebe gab und gibt.


Wäre es nicht schön, wenn auch wir heute als Familie füreinander da wären? Wäre es nicht wunderbar, wenn wir in dieser Zeit tiefer in unserer Liebe zu Jesus wachsen würden und aus ihr heraus auf kreative Weise den Menschen um uns mit Rat und Tat zur Seite stünden?


Vielleicht ist diese Krise eine Chance für uns als Kirche, wieder zu mehr gesellschaftlicher Relevanz zu gelangen. Aber das wird nur so sein, wenn wir uns als Teil unserer Gesellschaft verstehen und sie an unserem Familienerbe Teil haben lassen, das uns unser Vater geschenkt hat. Dazu gehört, dass wir aus der Begegnung mit ihm heraus fähig sind, anderen Menschen zu dienen und ihnen unsere Zeit zu schenken.

Vielleicht sollten wir in dieser Zeit weniger konsumieren und dafür mehr Zeit in Gottes Gegenwart verbringen, um dann - erfüllt mit seiner Liebe - beispielsweise Einkaufsdienste für alte oder behinderte Menschen anbieten oder uns ehrenamtlich zur Unterstützung diakonischer Werke, sozialer Dienste oder städtischer Hilfsangebote melden.

Vielleicht - nein: sicher - würde es uns als Familie gut tun, wenn wir uns in diesen Tagen etwas mehr um Gott und die Menschen um uns kümmern würden.


Danke fürs Lesen. Ich liebe euch.


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