Ich saß am Frühstückstisch, als ein guter Freund mir eine Textnachricht schickte. Er ging wohl davon aus, dass ich von bestimmten Nachrichten bereits wüsste und meldete sich bei mir, weil er davon ausging, dass sie mich emotional sicher treffen würden.
Ich wusste noch von nichts.
Aber sofort schlug mein Herz schneller und Ahnungen stiegen in mir auf. Schlimme Ahnungen. Ich wartete mit dem Lesen der weiteren Informationen bis nach dem Frühstück, dann begann ich zu lesen. Was ich las, waren für mich kaum fassbare Vorwürfe einem Mann gegenüber, den ich sehr, sehr schätze und der mein Leben maßgeblich geprägt hat. Obwohl ich weiß, dass Leiter keine "besseren" Menschen sind und ebenso in Sünde fallen können wie jeder andere Mensch war ich geschockt.
Augenblicklich sind zwar noch keine Beweise veröffentlicht worden, die die Vorwürfe öffentlich belegen würden, aber es sieht so aus, als ob sie fundiert sind. Es gibt Betroffene. Eines ist klar: Die Wahrheit muss ans Licht, so schmerzhaft sie sein mag.
Es schmerzt mich zutiefst, wenn Christen mit großem Einfluss fallen oder urplötzlich aufgedeckt wird, dass es seit Jahren einen Teil ihres Lebens gibt, den sie in der Dunkelheit verbringen und vor anderen verstecken. Ich habe das zu oft schon gesehen. Jeder einzelne Fall ist ein Stich in mein Herz. Ich leide mit den Opfern, den betroffenen Familien und auch für die vielen Menschen, die durch das Fallen ihres Leiters verletzt und verunsichert werden.
Mein Glaube bricht deswegen allerdings nicht zusammen. Er hängt an Jesus und nicht zuerst an Menschen. Das bedeutet nicht, das ich abgestumpft wäre, ich könnte weinen. Aber ich kenne die Menschen langsam ein bisschen und weiß, dass wir alle zu allem fähig sind. Ich komme auch nicht zu dem gedanklichen Ergebnis, dass ein heiliges Leben eine Illusion wäre. Nachrichten, wie mein Freund sie mir gestern schickte bestätigen, was ich seit vielen Jahren denke und wofür ich werbe und was ich in meinem eigenen Leben umsetze:
Wir brauchen echte Freundschaftsbeziehungen, die eine absolute Transparenz möglich machen. Jeder Mensch - ob Christ oder nicht - hat verrückte, abwegige oder perverse Gedanken. Die Einstellung, darüber nicht sprechen zu können lässt diese Gedanken, aber auch geheimgehaltene Sehnsüchte und Lüste nur größer werden. Der ehrliche Austausch mit einem Freund zeigt: auch andere haben mit so etwas zu kämpfen, man ist nicht alleine damit oder ist ein besonders schlechter Mensch. Aber ein radikal ehrlicher Austausch hilft uns auch zu erkennen, wann wir beispielsweise professionelle Hilfe brauchen, um Suchttendenzen oder andere krankhafte Störungen überwinden zu können.
Wir brauchen Gebet. Tatsächlich glaube ich, dass Leiter sogar besonders viel Gebetsunterstützung brauchen. Ihre Versuchungen - innere wie äußere - sind zum Teil anders gelagert, als bei anderen. Wer auf der Bühne stehend zu vielen Menschen spricht, wessen Bücher Tausende lesen oder wessen Musik von Millionen gehört wird, der tritt beispielsweise in einen Raum der Macht ein, die schon viele zu falschen Schlüssen und Entscheidungen geführt hat. Er erlangt ein Image und will dem womöglich entsprechen, auch wenn er das gar nicht wirklich kann - dann gerät er in die Gefahr, sich zu verstellen.
Wir brauchen alle Demut. Kein Leiter ist "besser" als du, du bist nicht "besser" als er. Unabhängig von unserem Einfluss müssen wir uns immer vor Augen halten, dass wir einerseits nicht so wichtig sind, wie wir uns manchmal fühlen (wollen) und dass wir zweitens ebenfalls fallen können.
Wir müssen alle um ein heiliges, gottesfürchtiges Leben ringen. Wir sind alle zu allem fähig - es müssen nur die entsprechenden Umstände herrschen. Wer mit Überzeugung sagt: „DAS würde ICH nie tun“ hat nicht verstanden, was wir Menschen in der Lage sind zu tun. Uns kann nur die Kombination von Gottes Gnade und dem täglichen Ringen um Heiligung fähig machen, kleinen und großen Versuchungen zu widerstehen.
Ich bin traurig. Aber ich bin nicht verzweifelt. Ich sehe nur umso deutlicher, wie sehr wir Jesus brauchen - und einander.
Alles Liebe. Rainer
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