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AutorenbildRainer Harter

Wenn der Glanz des Westens verblasst

Aktualisiert: 12. Juni 2018

Zwei Mal im Jahr brechen meine Frau und ich, zusammen mit einer Gruppe von Mitarbeitern aus dem Gebetshaus Freiburg zu einer zehntägigen Reise nach Israel auf. Inmitten der Altstadt Jerusalems haben wir Freunde gefunden, bei denen wir wohnen und von wo aus wir unserem Reiseauftrag nachkommen: Zu beten und Menschen zu lieben.

Jeden Tag beginnen wir frühmorgens in der zu unserer Unterkunft gehörenden Kapelle mit einer längeren Anbetungs- und Gebetszeit. In der Anbetung verherrlichen wir den Namen Jesu inmitten einer Stadt, die immer wieder von politischen und religiösen Konflikten geschüttelt wird. Fürbittend beten wir für das Land mit seinen so unterschiedlichen Bewohnern und um Gottes Eingreifen in die seit so langer Zeit spannungsgeladene Atmosphäre. Menschliche Lösungsvorschläge haben sich bisher allesamt als Sackgassen erwiesen, deshalb versuchen wir mit unserem Gebet einen kleinen Teil dazu beizutragen, dass der Wille Gottes im Nahen Osten geschehen und Frieden einziehen kann.

Täglich sind wir zusätzlich in zwei oder drei Kirchen zu Gast, um auch dort anzubeten. Da wir diese Gebetsreisen schon seit einigen Jahren durchführen, haben wir wunderschöne Beziehungen zu den unterschiedlichsten Kirchen und deren Repräsentanten aufbauen können. Wir versuchen dabei, die Gemeinden darin zu unterstützen, das Lob Gottes in Jerusalem und das Gebet für die Stadt zu vermehren. Den Tag beschließen wir dann mit einer Anbetung in „unserer“ Kapelle.

Neben dem Gebet steht das „Lieben“. Inzwischen haben wir viele Freunde in der Altstadt gewonnen: vom Schuhmacher über den Bäcker, den Juwelier, die Besitzer kleiner Restaurants oder Falafelküchen und natürlich die Verantwortlichen in den Kirchen. Wir verbringen Zeit mit den Menschen, essen und lachen zusammen und hören uns ihre Sorgen an, für manche dürfen wir beten.

Der Abschied fällt nicht leicht, denn über die Jahre sind wir fast ein Teil der Altstadtgemeinschaft geworden.

Eine ganz besondere Freundschaft ist zu den „Kleinen Schwerstern Jesu“ entstanden, die weltweit in kleinen Konventen unter den Armen leben und dabei ein kontemplatives Leben des Gebets führen. In Jerusalem findet man sie direkt im schmalen Teil der Via Dolorosa an der sechsten Station des Kreuzweges. Während der jüngsten Reisen sind wir fast täglich zu Anbetung und Gebet in der tiefgelegenen, Krypta aus dem sechsten Jahrhundert gewesen, die sich unter der einfachen Werkstatt der Schwestern befindet, in der sie Ikonen herstellen, die sie verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Seit fünfzig Jahren sitzt Schwester Rose in den schlichten, geradezu ärmlichen Räumen und malt, klebt und setzt die Bestandteile der kleinen Ikonen zusammen.

Von dieser Frau möchte ich ein wenig erzählen und davon berichten, wie sehr sie unsere Gruppe beeindruckt hat, als wir auf mehrfache Nachfrage hin zusammensaßen und sie uns die Zeit geschenkt hat, aus ihrem Leben zu berichten.

Schon als junge Frau war für Schwester Rose - eine gebürtige Rheinländerin - klar, dass sie einem kontemplativen Orden beitreten möchte. Durch die Beschäftigung mit dem Leben und Wirken des Wüsteneremiten Charles des Foucault beschloß sie, sich den „Kleinen Schwestern Jesu“ anzuschließen, die, wie ihr Vorbild, die Liebe Jesu unter die armen Menschen bringen möchten. Freiwillig unterstellen sie ihr Leben den Gelübden der Armut, Ehelosigkeit und des Gehorsams. Die Schwestern dieses Ordens leben nicht etwa hinter Klostermauern, sondern wohnen mitten in Flüchtlingslagern oder den Elendsvierteln dieser Welt. Es gibt Schwestern, die sogar mit einem reisenden Zirkus unterwegs sind oder mit Gruppen von fahrenden Sinti und Roma zusammenleben.

Wer Sr. Rose zuhört, dem stellt sich die Frage, wie man so ein Leben aushalten kann, ohne inmitten all des Elendes die Hoffnung zu verlieren. Die Antwort von Sr. Rose ist so einfach wie tiefgründig: „Wenn Christus nicht auferstanden wäre, hätte dies alles keine Bedeutung“. Ihre Hoffnung ruht ganz offenbar nicht auf schnellen sichtbaren Erfolgen. Sie glaubt daran, dass die vielen Menschen, denen sie täglich begegnet, es wert sind, in ihnen Christus zu sehen und sie will ihnen so dienen, als wäre er selbst es, der vor ihr steht. Ihre Hoffnung ruht auf der Tatsache, dass der  auferstandene Sohn Gottes durch uns Christen wirken kann und er eine hoffnungsvolle Zukunft für jeden Menschen bereithält, der diese annehmen möchte.

Während Sr. Rose aus den fünfzig Jahren ihres Lebens in der Jerusalemer Altstadt erzählt, wird es immer stiller in der Krypta. Unsere Gruppe stellt nur wenige Fragen, denn groß ist das Staunen über die Demut, die diese durchaus burschikose Frau in sich trägt. Und da ist noch etwas Anderes im Raum spürbar, nämlich unsere Erkenntnis darüber, was für ein angenehmes und komfortables Leben wir Christen in Deutschland führen. Beim Gedanken daran, wie oft wir stolz auf unsere Erfolge und Errungenschaften, unsere Gebetserhörungen und Gotteserfahrungen hinweisen, während diese „Kleine Schwester Jesu“ einfach ihr ganzes Leben verschenkt, ohne darüber zu sprechen, empfinde ich eine tiefe Betroffenheit.

in der Kelleratmosphäre einer kleinen, uralten Krypta in der Altstadt von Jerusalem ist der vermeintliche Glanz unseres von der westlichen Erfolgs- und Erlebniskultur geprägten Christseins angesichts eines freiwillig in Armut geführten Lebens der Liebe verblasst.

Ich frage mich: Wer ist hier der eigentlich Arme?



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