Wie die vielen Generationen vor uns, stehen auch wir Christen heute vor einer ganz bestimmten Aufgabe.
Es gilt, die jahrtausendealte Botschaft des biblischen Evangeliums für uns selbst und die Menschen unserer Zeit in die Gegenwart und mitten hinein in unseren Lebensalltag zu übersetzen. Diese Übersetzungsarbeit, deren Ziel die Antwort auf die Frage danach ist, wie die biblischen Aussagen auf unser heutiges Leben anzuwenden sind, ist durchaus herausfordernd.
Das ist neben anderen Gründen auch deswegen so, weil nicht nur jeweils eine, sondern immer mehrere Generationen gleichzeitig leben, die sich jedoch in manchem stark unterscheiden.
Deshalb ist unsere Übersetzungsarbeit nie zu Ende.
Augenblicklich leben sechs Generationen zur selben Zeit. Das sind die so genannte Stille Generation, die Baby Boomer, die Generation X, die Millenials, die Generation Z und die Generation Alpha. Wie finden sie - einzeln und gemeinsam - zu einem Verständnis des Evangeliums, das sie verbindet, anstatt sie zu trennen?
Trotz der großen Herausforderung, die diese Aufgabe stellt, gelang dies über die Jahrhunderte hinweg einigermaßen gut. Doch manchmal passierte es auch, dass der Bogen überspannt und versucht wurde, nicht nur die Worte des Buches, das wir „Wort Gottes“ nennen, sondern Gott und sein Wesen selbst an das Denken der jeweiligen Generation anzupassen.
Bei aller Nachvollziehbarkeit auch der Versuche, Gott verstehbarer und jeweils „glaubhafter“ zu machen, trägt diese Vorgehensweise eine große Gefahr in sich. Es kann dann passieren, dass durch die menschlich begrenzte Vorstellung und durch allzu menschliche Erklärungsversuche der Blick auf Gott nicht klarer, sondern sogar getrübt wird. Gott wird dann vielleicht „verstehbarer“, aber dafür - man verzeihe mir den Ausdruck: gewöhnlicher. Und das Gewöhnliche entwickelt sich schnell zum Langweiligen, Uninteressanten hin.
Wenn Gott kein Geheimnis mehr sein darf, weil man dem Trugschluss zum Opfer fällt, ihn mit dem menschlichen Geist erfassen und beschreiben zu können, geht leicht die Faszination für ihn verloren, die der große Theologe Rudolf Otto das „mysterium tremendum“ und „mysterium fascinans“ nennt. Auf Deutsch übersetzt also das Geheimnis, das den Menschen erschrecken lässt und ihn zugleich fasziniert.
Es stellt sich die Frage, ob das Geheimnis Gottes überhaupt gelüftet werden muss und ob das überhaupt möglich ist. Auf beide Fragen lautet meine Antwort nein. Ich glaube nicht, dass ich Gott in allem verstehen muss, um ihm vertrauen zu können. Ich glaube auch nicht, dass es selbst dem klügsten Menschen gelingen kann, sich auf die Ebene des Denkens Gottes zu stellen, um ihn zu durchschauen.
Gott und Mensch sind nicht gleich. Unsere Annahmen über ihn und unsere Übersetzungsversuche müssen mit der Demut geschehen, dass wir manches für uns nicht Nachvollziehbare einfach stehen lassen müssen.
Ich glaube, dass es einen Ort gibt, an dem sowohl das mysterium tremendum, als auch ein kindliches Vertrauen Raum hat. Beides kann koexistieren: Gott als faszinierendes Geheimnis und als Vater, den man nicht in allem verstehen, aber dem man dennoch vertrauen kann.
Den genannten Ort möchte ich den Ort der unvoreingenommenen Begegnung mit Gott nennen. Wenn wir so ein Stück näher an ihn herantreten, stellen wir vielleicht staunend fest: Er ist viel faszinierender, als wir bisher angenommen haben. Die Faszination, die von ihm ausgeht, ist unabhängig vom Denken und der Vorstellungskraft der Menschen einer bestimmten Epoche der Weltgeschichte.
Ja, es ist gut, wenn wir darum ringen, die Botschaft des Evangeliums für die Menschen von heute fassbar zu machen. Aber das darf nicht auf Kosten des Geheimnisses und der Souveränität Gottes geschehen. Er wird weiterhin Dinge tun, die wir nicht verstehen können. Seine Worte werden sich nicht ändern, die beispielsweise von seiner Heiligkeit oder em Preis der Nachfolge sprechen. Sie mögen ein Affront für uns sein, aber es sind die Worte Gottes, die seinem Herzen und Denken entsprechen. Wir würden sicher manches anders sagen und tun als er. Aber ich vertraue darauf, dass er schon weiß, was er tut - sonst wäre er nicht Gott.
Ich glaube, wir müssen wieder lernen, hinter den Vorhang unserer eigenen Ideen über Gott zu schauen. Dort ist eine Schönheit zu entdecken, die nichts von ihrer Anziehungskraft verloren hat. Diesen Blick hinter den Vorhang schenken uns erstens die biblischen Worte über Jesus Christus - wenn wir sie einmal unvoreingenommen lesen - und zweitens die direkte Begegnung mit Gott im Gebet.
Ich wünsche dir eine Woche, in der du derart deine Bibel liest. Eine Woche, in der du deine Erwartungen und Prägungen einmal ablegen kannst, und dir Zeit nimmst, für Begegnungen mit dem größten Geheimnis von allen.
Alles Liebe. Rainer
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